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                                                      Im Düngewahn

Das Trinkwasser ist nitratverseucht, die Luft voller Feinstaub: Deutschland hat ein Stickstoffproblem. Um es zu lösen, schlagen Experten vor, vieles teurer zu machen. von Marlies Uken
Wenn der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) ein Sondergutachten vorlegt, dann wird es brisant. Diesmal hat sich das Beratergremium der Bundesregierung Stickstoff vorgenommen – und egal, ob Verbraucher, Landwirte oder Stromkonzerne: Die Regierungsberater legen sich mit fast allen an.

Stickstoff gelangt durch Kunstdünger, Gülle und das Verbrennen von Öl, Kohle und Biomasse in die Umwelt. "Der zu hohe Eintrag von reaktiven Stickstoffverbindungen in die Umwelt gefährdet die menschliche Gesundheit, die Gewässer, die Biodiversität und das Klima", heißt es in dem Gutachten, das ZEIT ONLINE exklusiv vorliegt. Seit der Industrialisierung haben sich die freigesetzten Stickstoffmengen fast verzehnfacht, schreiben die Fachleute.

Die Folgen sind gravierend: Stickstoffoxide in der Luft fördern die

Feinstaub- und Ozonbildung. Zahlreiche Gewässer sind überdüngt.

Fast ein Drittel der Grundwasserkörper in Deutschland ist mit zu viel

Nitrat belastet. Sichtbares Zeichen für die Überdüngung ist etwa der

Schaum am Meeresufer durch Algenblüte.
Vor allem aber geht die Artenvielfalt zurück – beispielsweise verdräng-

en stickstoffliebende Gewächse wie Brombeeren und Brennnesseln

im Wald andere Arten. In Städten überschreiten inzwischen wegen

des starken Verkehrs 70 Prozent der Messstationen die zulässigen

Stickstoffgrenzwerte. Eine Stickstoffverbindung steht zudem im

Verdacht, krebserregend zu sein.

Um das Problem zu lösen, schreckt der Sachverständigenrat auch vor unpopulären Entscheidungen nicht zurück. Der reduzierte Mehrwertsteuersatz auf Fleisch, Eier und Milchprodukte? Gehört abgeschafft, schließlich verschleiere er die wahren Kosten der Massentierhaltung, einem Hauptverursacher für das Stickstoffproblem. Schweinemäster? Sollten zukünftig verpflichtend eine teure Abgasreinigung im Stall einbauen. Landwirte sollten Strafe zahlen, wenn sie ihre Düngerkontingente überschreiten. Und selbst für alte Kohlemeiler sollten neue Stickstoffgrenzwerte gelten  – das könnte millionenschwere Nachrüstungen für die Stromkonzerne bedeuten.
Düngeverordnung wird überarbeitet

Die Umweltfachleute fordern, dass Deutschland seinen Stickstoffausstoß mindestens halbieren müsse, um nationale und internationale Qualitätsziele zu erreichen. Dazu brauche man eine umfassende Stickstoffstrategie mit verbindlichen Zielen und harten Sanktionen. Gleich 40 Vorschläge machen die Wissenschaftler, darunter eine Reform des zentralen Instruments, der Düngeverordnung für Landwirte. Die wird auf Druck aus Brüssel zurzeit überarbeitet – was jetzt schon für Unruhe unter Deutschlands Landwirten sorgt.

Denn unter anderem ist die Idee, dass auch Gärreste aus Biogasanlagen zukünftig mitgezählt werden, wenn es um die Ermittlung der Stickstoffmenge geht, die ein Landwirt auf dem Feld ausbringt. Landwirte dürfen mit den Resten aus der Biogasanlage düngen, müssen aber bislang nur die Stickstoffmengen aus der Gülle bilanzieren, nicht aber die Mengen aus pflanzlichen Resten wie Mais und Grassilage. Gerade in Deutschland, dem Land der Biogasanlagen, sind das relevante Mengen. Der Sachverständigenrat hätte gerne eine vollständige Bilanz, um gerade in Regionen mit intensiver Landwirtschaft, wo es oft zahlreiche Biogasanlagen gibt, besser kontrollieren zu können. Zudem können Subventionen gestrichen werden, wenn die Obergrenze von 170 Kilogramm Stickstoff pro Hektar überschritten wird.

Auch Verbraucher kommen nicht ungescholten weg. Damit sich die Umweltkosten stärker im Preis von tierischen Produkten widerspiegeln, würde der SRU am liebsten den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Milch, Eier und Fleisch abschaffen. Und in öffentlichen Einrichtungen, in denen der Staat die Kantine betreibe, sollten öfter vegetarische Gerichte und Essen mit einer halben Portion Fleisch auf der Speisekarte stehen.
Wirtschaftsinteressen vor Umweltschutz

Es ist nicht so, dass die Bundesregierung das Thema komplett ignoriert. Doch sie verfolge es nicht mit ausreichend Engagement, finden die Fachleute. Die eigenen Berater attestieren ihrer Regierung, dass etwa in Brüssel die "ökologischen Anforderungen an Agrarsubventionen – auch mit Unterstützung der Bundesregierung – im Verlauf der Verhandlungen abgeschwächt worden" seien. Wenn es ernst werde, würden die zuständigen Behörden "häufig die wirtschaftlichen Interessen der Verursacher zu stark gegenüber den Umwelt- und Naturschutzinteressen" gewichten. Viel Klartext. Ob das hilft, wird sich in den kommenden Wochen bei der Novelle der Düngeverordnung zeigen.

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